Stehende Ovationen bei Musical-Premiere im Stralsunder Theater
Zitat aus der OZ (04.05.1998)
Stralsund (OZ) Lange bevor das Wort „Kult“ jedem zweiten halbwegs erfolgreichen Film als verkaufsförderndes Attribut vorangestellt wurde, war die „Rocky Horror Show“ der Kult der Popkultur. Sie gebar, wie nur noch die Serie „Enterprise“ Rituale, Partys und Garantie auf enthemmenden Frohsinn. Vielleicht das einzige Musical, das dem Theater wirklich Rock ’n‘ Roll-Tauglichkeit aufzwingt. Dem muß sich jede Inszenierung stellen, und ihr Erfolg wird immer daran gemessen werden, wie das Kulteriebnis in ihm wieder auflebt. Das Theater Vorpommern brachte Richard O’Briens Geschichte eines bieder-verklemmten Pärchens, das sich in einem Raumschiff-Schloß vom Planeten Transsexual aus der Galaxie Transsylvanien wiederfindet und dort den Gelüsten des Meisters ausgesetzt sieht, am Sonnabend auf die Stralsunder Bühne.
Dem Inszenierungsteam und dem Ensemble gelang alles, was in diesem Feuerwerk der Klischees gelingen muß. Das Publikum feierte seine Rituale, sich selbst und die Musik, vor der sich manche Top Ten-Plazierung schämen müßte. Bühnenbild und Kostüme waren glitzernd schräg und sphärisch. Reis, Klopapierrollen und Wasser flogen reichlich durch den Zuschauerraum. Die Ehrwürdigkeit des Theaters wäre fast hin gewesen, wenn die feuerzeugschwenkende Euphorie nicht auf Feuerwehrgebot hin gebremst worden wäre. Nach jedem Song brandete Applaus, und mit Standing Ovations wurden die Protagonisten nach etlichen Zugaben in die Premierenfeier entlassen. Was gibt es da noch zu sagen?
Dem Kritiker verschlägt es die Sprache, da in den Ohren noch immer die Bravorufe widerhallen. Vielleicht sollte er schweigen, um sich nicht als Nörgler zu entlarven. Aber vor so viel gutem, professionellem Willen zum Erfolg will auch er nicht die verbalen Waffen strecken. Zugegeben: Christian Venzke als Frank N. Furter war stimmlich und leiblich überzeugend präsent. Aber spielerisch ließ er die selbstverliebte Aasigkeit, die jeden Don Jüan in den Tod treibt, vermissen. Die Erdlinge Brad, Janet und Dr. Scott spielten, wie man so etwas spielen muß. Verklemmt, bis in die Fußspitzen überrascht, tappten sie zwischen sich aufsparender Treue und erotisch-verführerischen Neuerungen durch diesen trashigen Sommernachtstraum. Und daß sie Druck in der Stimme haben, zeigten sich auch. Der Erzähler war voll knarriger Beiläufigkeit. Riff-Raff gefiel in glatter Dämonie. Dafür blieb die Band irgendwo auf dem Weg vom Musical zum Rock ’n‘ Roll stehen. Sie klang mehr nach sentimentaler Bar, als nach verräuchertem Club. Die schwülstige Anarchie, die dem Stück wohl zum Kultstatus verhalf, ging dabei etwas verloren. Aber das mag konsequent sein, denn die Inszenierung fand widerspruchslos zu Bildern, die die Science-Fiction-Welt der Siebziger so in Anspruch nahm, wie es die Videoclips der Neunziger eben tun. Auch an dem Homunkulus „Rocky Horror“ gehen 25 Jahre nicht spurlos vorbei.
Von G. F. TRIEBENECKER