Märchen aus der 2002. Nacht

Nach dem letzten Vorsingen im Friedrichstadtpalast sind die Sänger der neuen Revue komplett
Zitat aus der Berliner Kulturszene vom Freitag, den 22. Juni 2001

Etwas ausser Atem stürzt Christian Venzke in den großen Saal des Friedrichstadtpalastes, gerade als sein Name aufgerufen wird. „Entschuldigung, ich bin etwas spät dran, aber der Berliner Verkehr“, haspelt er eilig und springt auf die Bühne. Wie die anderen vor ihm wirkt der Sänger auf der 55 Meter tiefen, 25 Meter breiten und vollständig leeren Bühne etwas verloren. Unbeirrt trägt Christian Venzke seine beiden Stücke vor. Auch dem Moment der absoluten Stille, wenn das Forte der eingespielten Musik und des Gesangs verklungen ist und nach kurzer Pause ein nüchternes „Danke“ aus der fast zehnköpfigen Jury kommt, begegnet er mit souveränem Lächeln.

Auditions gehören zum normalen Geschäft eines Schauspielers und Sängers. Achtzehn hat Isabel Dörfler alleine in diesem Jahr hinter sich gebracht. Und bei einer von zehn besteht im Durchschnitt die Aussicht, dass es klappt. Immerhin gehören die acht Sänger, die in das Haus an der Friedrichstrasse geladen sind, bereits zur engeren Auswahl. Sie haben die anderen hundert Sänger, die sich um einen Part in „Wunderbar – die 2002. Nacht“ beworben haben, schon aus dem Rennen geschlagen. Drei von ihnen werden am 1. März 2002 bei der Premiere der neuen Revue, einer phantastischen Fortsetzung von 1001 Nacht, auf der Bühne stehen.

Lada Kummer singt herzzerreißend eine Ballade aus der Revue. Die Songs stammen von Thomas Natschinski, jenem Berliner Komponisten, der seine musikalische Laufbahn vor knapp 40 Jahren in der DDR mit der Beattruppe Team 4 begann. Mitten im Lied fängt die Sängerin an zu summen. Sie hat den Text vergessen. Die Bewerberin schaut nervös auf ihr Notenblatt, findet schließlich die Stelle und singt weiter. Die Jury bedankt sich und bittet Karim Khawatmi ein zweites Mal auf die Bühne.

Zehn Minuten, die den Bewerbern garantiert um das Vielfache länger erscheinen, berät die Jury und verkündet schließlich die Wahl für die drei Hauptrollen: Isabel Dörfler, Christian Venzke und Karim Khatwapmi. „Die drei passen gut zusammen“, erklärt der Regisseur Jürgen Nass im Anschluss. „Das war uns sehr wichtig. Die Figuren müssen die gleiche Kraft ausstrahlen, auch wenn der eine den Stärkeren spielt und der andere den Schwächeren. Aber einer darf nicht von vorne herein optisch schon der Schwächere sein. Das spielt auf der großen Bühne eine wichtige Rolle.“

Natürlich mussten die Figuren auch gesanglich und tänzerisch die vorgaben der Rollen erfüllen. „Wir haben die Solisten als Sänger ausgewählt“, sagt der Intendant Sascha Iljinskij. „Wir haben da auch sehr auf die beiden Musiker gehört, den Chefdirigenten und den Komponisten. Wenn die gesagt haben: ‚Da gibt es eine Chance von Inonationsproblemen‘ oder ‚Da fehlt unter Umständen die Kraft, 250 Vorstellungen durchzuhalten‘, dann sind das Dinge, die wir letztendlich mit berücksichtigt haben.“ Überglücklich und ausgelassen umarmen sich die drei Auserkorenen, während die anderen Bewerber schweigend den Raum verlassen. „Ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalte“, sagt Isabel Dörfler über den Stress der Auditions. Christian Venzke ist fast froh, dass er so spät gekommen ist. „Ich hatte gar keine Zeit, nervös zu werden.“ Alle drei müssen das Ergebnis erstmal sacken lassen. „Ich muss sehen, wie ich das hinkriege. Ich habe eine Tochter und wohne nicht in Berlin“, sagt Isabel Dörfler. Doch wie alle Musikalsänger kennt sie die Wanderschaft bereits.

Monate lang war sie mit der „Lloyd-Webber-Musical-Gala“ auf Europa-Tournee. Die beiden anderen haben zuletzt bei „Jekyll und Hyde“ in Bremen gearbeitet. Ausführlich erklären sie, woher sie sich kennen: von dem Bundeswettbewerb für Gesang, den Isabell und Karim vor zehn Jahren gewonnen haben, von einer Audition in Bruck an der Leitha. Isabel Dörfler unterbricht und lacht laut: „Musical ist eine große Familie.“

Noch bis zum 11. November wird „Revue Berlin“ im Friedrichstadtpalast gespielt. Vom 23. bis zum 28. August ist die russische Tanzshow „Kostroma“ zu Gast. Am 4. November hat die Kinderrevue „Kinder der Bounty“ Premiere, am 27. November die Weihnachtsrevue „Jingle Bells“.