Wunderbar – die 2002. Nacht

Orientalischer Zauber in Berlin
Zitat aus der Zeitschrift ‚musicals‘ (Ausgabe April / Mai 2002)

Pfiff mit der ‚Revue Berlin‘ noch bis vor kurzem kräftig Berliner Luft durch die Hallen des Friedrichstadtpalastes, zieht jetzt mit ‚Wunderbar – die 2002. Nacht‘ ein Hauch Orient durch Europas größtes Revuetheater. Während man früher den Abend meist in vier große Themenblöcke aufteilte, die das Motto der Revue aus verschiedenen Blickwinkeln und Epochen beleuchteten, wollte man dieses Mal eine durchgehende Geschichte erzählen. Im Mittelpunkt der Handlung steht der Sultan, der von seiner Frau betrogen wird. Aus Rache wird nicht nur die untreue Gattin geköpft, sondern werden in Folge auch alle Jungfrauen hingerichtet, die mit dem Sultan eine Nacht verbracht haben. Das grausame Treiben findet erst ein Ende, als die schöne Scheherazade in den Palast kommt und den Sultan mit ihren weltbekannten Geschichten aus 1001 Nacht fasziniert. Wo die Märchen aufhören, spinnen die ‚Wunderbar‘-Autoren Sascha Iljinskij, Jürgen Nuss und Roland Welke die Story weiter: der Sultan heiratet Scheherazade, deren jüngere Schwester Dinarsade wird rasend vor Eifersucht und versucht im weiteren Verlauf der Geschichte, mit allen Verführungskünsten den Sultan für sich zu gewinnen. Dabei bedient sie sich der Hilfe des Wesirs, einem Freund des Sultans, der im Laufe der traumatischen Zeitreise bei einem effektvollen Treppensturz ums Leben kommt.

Zwei Todesfälle auf offener Bühne sind in einer Show, die im wesentlichen leichte Unterhaltung bieten will, schon etwas sehr Ungewöhnliches. Ungewöhnlich auch das Bestreben, mittels einer Ausstattungsrevue eine Handlung zu erzählen. Im Berliner Friedrichstadtpalast geht diese Rechnung dann auch prompt nicht auf: kann man zu Beginn dem Geschehen noch einigermaßen folgen, ist man spätestens nach der Pause inhaltlich der absoluten Orientierungslosigkeit ausgeliefert und fühlt sich verloren auf der Suche nach dem Sinn dessen, was man sieht.

Zu sehen gibt es in ‚Wunderbar – die 2002. Nacht‘ eine ganze Menge. Die von Bühnenbildner Fred Berndt entworfene Szenerie beherrscht ein riesiges Buch, das zu Beginn der Show aufgeschlagen wird und auf dessen leere Blätter anfangs die Rahmenhandlung geschrieben wird – auf der linken Seite in lateinischer, auf der rechten Seite in arabischer Schrift. Bald schon verschwinden die Blätter im Schnürboden und aus dem Hintergrund rollt ein goldglänzender Sultans-Palast auf die Vorderbühne. Während des ersten Aktes dominiert auch dieser opulent-orientalische Eindruck, nach der Pause wird es allerdings westlicher, moderner und die Optik entfernt sich zusehends vom eigentlichen Thema. Da gibt es plötzlich eine „Party Narziss“, deren prüde Lack- und Leder-Obszönität allerdings sehr gestrig wirkt, dann fliegt der Sultan ohne erkennbaren Grund in einem Ballon davon und kurz darauf spielt eine Szene in der Unterwasserwelt. Das Ganze gipfelt dann kurz vor dem Finale in einem Prospekt mit New-York-ähnlicher Skyline, aus der im linken Teil frech der Berliner Fernsehturm herausragt. Wenn man mal davon absieht, dass das optische Allerlei primär auf dramaturgischen Schwächen beruht, muss man Fred Berndt für seine erste Arbeit am Berliner Friedrichstadt-Palast höchsten Respekt zollen: was er abgeliefert hat, ist stimmungsvoll, beeindruckt ohne zu erschlagen, nutzt geschickt die riesigen Dimensionen der Bühne ohne verloren zu wirken und hat eine klare Handschrift. Ganz wesentlich trägt zu diesem positiven Eindruck natürlich auch das geniale Lichtdesign von Franz Peter David bei, das zweifelsohne mit zum Besten gehört, was man momentan auf den Revuebühnen dieser Welt zu sehen bekommt.

Das könnte man wohl auch von Ingrid Böttchers geschmackvollen und aufwendig gefertigten Kostümen sagen, wären da nicht die blauen Mao-Anzüge, die das große Finale schlichtweg in den Sand setzen. Während der gesamten Finalszene wartet man vergebens darauf, dass sich das Ensemble die billig wirkenden und schlecht sitzenden Klamotten mit einem großen Knall vom Leibe reißt und darunter mit Glitter und Glanz die richtigen Kostüme zum Vorschein kommen, die den Abend dann wie mit einem Feuerwerk beenden.

Das musikalische Ende von ‚Wunderbar – die 2002. Nacht‘ bildet selbstverständlich die obligate Mitklatsch-Nummer, mit der man das Publikum beschwingt auf den Heimweg schicken will. Komponist Thomas Natschinski ist dafür allerdings keine besonders zündende Melodie eingefallen, und so verebbte das Finale ebenso in der Bedeutungslosigkeit wie die Musik des restlichen Abends. Dabei kann man Natschinski nun weiß Gott nicht vorwerfen, ihm sei nichts oder nichts Gutes eingefallen. Seine Komposition bietet einige wirklich schöne Balladen und stimmungsvolle Szenenmusiken, allerdings ist der Gesamteindruck zu belanglos und man hat das Gefühl, dass man hier mit aller Gewalt versucht hat, aus einer als Film-Soundtrack hervorragend geeigneten Partitur eine theatralisch wirkungsvolle Bühnenmusik zu machen. Was in der ersten Viertelstunde noch als orientalischer Klangteppich durchgeht (Anleihen bei Mike Batts ‚Schizophonia‘ sind unüberhörbar), mündet schon bald in Langeweile. Man horcht auf, wenn im Pausenfinale etwas flottere Töne angeschlagen werden und ist voller Hoffnung, wenn es in der Eröffnungsnummer des zweiten Aktes recht rockig weitergeht – aber das war es dann auch schon, was an diesem Abend an musikalischem Pep und Drive geboten wurde, und das ist für eine Entertainment-Show zu wenig.

Klar, dass sich die Choreografen Birgitta Nass, Gail Davies-Sigler und Marvin Smith schwer taten, hierzu mitreißende Tanzszenen abzuliefern. Ein paar kreisende Hüften sind meist schon alles, was an orientalischem Flair rüberkommt, und auch ansonsten beherrscht mehr elegisches Bewegungstheater die Szenerie denn fetzige Choreografie. Der Gipfel der inhaltlichen Verkrampfung wird erreicht, wenn zehn Minuten vor Schluss die Damen des Balletts noch schnell die obligate Girlsreihe vorführen müssen; ganz offensichtlich wollte man das Publikum dann doch nicht so ganz ohne das nach Hause gehen lassen, was die meisten Zuschauer wohl erwarten, wenn sie sich eine Eintrittskarte für den FriedrichstadtPalast kaufen.

Da man in ‚Wunderbar‘ eine Handlung erzählen wollte, hat man konsequenterweise als Solisten keine reinen Sänger, sondern erfahrene Musical-Darsteller engagiert. Naturgemäß sind aber in einer Revue auch diese „Hauptrollen“ nur relativ kleine Partien und bieten kaum Raum für interpretatorische Entfaltung. lsabel Dörfler hinterlässt als Dinarsade noch den nachhaltigsten Eindruck, ihre kräftige Stimme trägt die Songs und in ihrem feuerroten Kleid bewegt sie sich gewandt durchs undurchsichtige Geschehen. Karim Khawatmi tut sich als betrogener Sultan schon etwas schwerer mit einer klaren Profilierung, obwohl er mit „Traumspiel dieser Nacht“ die eindeutig schönste Ballade des Abends singen darf und das auch hervorragend tut. Wahrscheinlich hat seiner angebetenen Scheherazade nach dem Erzählen von 1001 Geschichten die Stimme versagt, anders ist es nicht zu erklären, warum diese Rolle mit einer Ballett-Solistin besetzt wurde: Susann Malinowski muss in dieser undankbaren Statistenrolle deshalb einfach blass bleiben. Ganz das Gegenteil ist Christian Venzke, der als extrovertierter Wesir viel Brust und noch mehr extravagante Garderobe zeigen darf; leider war seine Stimme nicht immer ideal für die leicht angerockten Songs, die man ihm zugedacht hatte.

Unterstützt wurden die Solisten vom wie immer tadellos aufspielenden Orchester des Friedrichstadtpalastes unter der musikalischen Leitung von Detlef Klemm.

Man kann vermuten, dass Regisseur Jürgen Nass etwas schaffen wollte, was vom Abstraktionsgrad eine orientalisch angehauchte Variante von ‚0‘ werden sollte, der Hitshow des Cirque du Soleil in Las Vegas. Es gibt mehrere Szenen, in denen dieses ganz offensichtlich wird, wenn z.B. die Solisten übers Wasser laufen, plötzlich Fahrräder durch die Luft schweben, auf einmal in einer Fantasiesprache gesungen wird, riesige Blechspielzeug-Figuren hereingefahren werden und dazwischen Kinder in Matrosenanzügen mit überdimensionalen Bällen spielen – das ist eine Bilder- und Formensprache, die für die kanadische Truppe typisch ist. Aber während beim Cirque du Soleil die Artisten einen Großteil der Show bestreiten, sind sie im FriedrichstadtPalast quantitativ nur Beiwerk einer Ausstattungsrevue, in deren Mittelpunkt das große Ballett steht. Bei ‚Wunderbar‘ kann die Rechnung also schon deshalb nicht aufgehen, weil die Zutaten falsch gemischt sind.

Vielleicht besinnt sich Intendant Iljinskij bei der nächsten Produktion ja wieder auf das Erfolgsrezept seines Hauses und zeigt wie mit der grandiosen und deutlich besseren ‚Revue Berlin‘ wieder eine Show, die einfach anspruchslose Unterhaltung bietet, die dafür aber perfekt und vor allem mitreißend gemacht ist.