Betörend für Seele und Geist: Die neue Show „Wunderbar“ im Berliner Friedrichstadtpalast
Zitat aus ‚Die Welt‘ (05.03.2002) – von Reinhard Wengierek
Revue ist Rausch. Und die Kunst des Dosierens. Ein Zuviel der alle Sinne kitzelnden Mittel benebelt, macht taub, führt zu Kopfschmerz und Kater. Ein Zuwenig langweilt.
In Europas größtem Revuetheater, dem einzigen, das kommunale Beihilfe kassiert, um Kassenpreise nicht in elitäre Höhen wie etwa für sommerliche Salzburger Feste der Hochkultur schnellen zu lassen, im Berliner Friedrichstadtpalast, wo tagtäglich und erschwinglich für jedermann das sozusagen demokratisierte Entertainment blüht, dort versteht man sich aufs optimale Dosieren. Garantiert jugendfrei, doch ohne Kinderei, ohne Spießerschwulst. Wie jetzt wieder bei „Wunderbar“, der fabelhaften neuen Show.
Also wieder ein Sog des Staunenswerten. Mit schön anzuschauenden, verrückt kostümierten Menschen, die so seltsame wie halsbrecherische Kunststücke leichthin zelebrieren. Mit monströsen Fabelwesen, minimalen Traumtierchen; pompösen Aufmärschen, pittoresken Reigen. Mit Sensationen zu Luft, zu Erde, zu Wasser. Mit Rasendem, Schwebenden, Stampfendem, Vibrierendem. Mit Zirpendem und Donnerndem, Bombastischem und Possierlichem. Girlanden aus wundersamen Träumen bezaubern Kind wie Greis. Ein köstliches Vergnügen (Regie: Jürgen Nass), – und ohne Vergnügen, so Ernst von Feuchtersieben, der alte österreichische Seelenarzt und Dichter, bildet sich kein Geist. – Freilich, der Friedrichstadtpalast ist keine Bildungsanstalt, Aber eben ein Etablissement fürs Vergnügliche; und somit – siehe oben! – auch zuständig fürs Geistige; gar Feingeistige. Sahen wir doch selten ein derart unverschämtes und zugleich raffiniert verspieltes Zitieren von Ikonen der Kunst des Barock, des Impressionismus, Surrealismus und auch der Neuen Sachlichkeit. Stilvolles Anverwandeln von Stilen (Bühne: Fred Bemdt), erregendes Nebeneinandersetzen von Heiß, Kalt, Fülle, Leere, gekonntes Verquicken von Oper, Show, Klassik, Pop (Musik: Thomas Natschinski), von Okzident und Orient: Heißt doch das Thema „Wunderbar – die 2002. Nacht“.
Die Geschichten der Scheherazade aus Tausendundeiner Nacht – Sindbad, All Baba, Aladin – setzen sich fort in sagenhaft abendländische Abenteuer: Die märchenhafte Orientalen Scheherazade (Susann Malinowski) und Sultan (Karim Khawatmi), Dinarsade (Katja Brauneis) und Wesir (Christian Venzke) geistern – wie Faust oder Peer Gynt – als frivol-schmerzensreiches Quartett Infernal durch die gefährlich schillernden Dschungel des Westens.
Freilich, Revue ist höchstens halbes Theater. So hängt die „Handlung“ bloß vage im Hintergrund. Philosophisches Fragen (der Sultan singt: „Was bleibt, nachdem wir gelebt?“) wird sofort wieder gelassen. Man will kein Staatstheater äffen, gar übertreffen. Sondern nichts weiter als triumphieren und schwelgen im Sinnlichen, in schönen, unvergesslich schönen, genüsslich sich selbst genügenden Bildern. Das tut so gut. Ist so vergnüglich, so betörend für die Seele wie den Geist.